Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Wie lebe ich nachhaltig?

12.01.2023

Prof. Dr. Mark Lawrence

Prof. Dr. Mark Lawrence

mark [dot] lawrence [at] rifs-potsdam [dot] de
"Wie kann ich nachhaltig leben?" ist eine Frage, die viele Menschen umtreibt.
"Wie kann ich nachhaltig leben?" ist eine Frage, die viele Menschen umtreibt.

Etwas mehr als  elf Jahre lang, von Oktober 2011 bis Ende 2022, habe ich als wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam gearbeitet und dabei geholfen, es von einer experimentellen Idee zu einer etablierten Einrichtung aufzubauen. Nun ist aus dem IASS das RIFS geworden: das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit - Helmholtz-Zentrum Potsdam (mehr zu dieser spannenden Entwicklung können Sie in unserer aktuellen Meldung lesen).

In dieser Zeit habe ich viel gelernt, aber auch über viele herausfordernde Fragen gegrübelt. Eine davon scheint ganz einfach zu sein:

"Wie kann ich nachhaltig leben?"

Natürlich ist die Einfachheit trügerisch. Denn dies ist eine der schwierigsten Fragen, die uns im Laufe der Jahre begegnet sind. Mehrere meiner Kolleginnen und Kollegen haben sich mit dieser Frage auf unterschiedliche Art und Weise auseinandergesetzt, unter anderem in Interviews, Artikeln und sogar in einem kleinen Heft mit Antworten auf Fragen wie diese, die von Kindern in Potsdam gestellt wurden.

Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass sich meine eigenen Antworten auf diese Frage (in Gesprächen, Podiumsdiskussionen, E-Mails usw.) um einige Themen und Prinzipien herum kristallisieren. Jetzt, in der Zeit des Übergangs zum RIFS, scheint ein passender Moment zu sein, über einige der Erkenntnisse und Perspektiven nachzudenken, die ich bisher entwickelt habe, sie zu konsolidieren und mit anderen zu teilen. Dies ist nur ein kurzer Einblick in mein Denken zu diesem Thema – keine wissenschaftliche Analyse. Ich hoffe, dass ich in den kommenden Jahren Gelegenheit haben werde, dieses Thema mit meinen Kolleg*innen am RIFS und unseren vielen Partnern zu vertiefen.

Es gibt mindestens zwei Hauptgründe, warum diese scheinbar einfache Frage so schwer zu beantworten ist. Erstens hängt die Antwort davon ab, wie "Nachhaltigkeit" definiert ist. Und zweitens sind wir nicht allein: Fast alle von uns leben in Gesellschaften, die weit von dem entfernt sind, was die meisten Menschen als "nachhaltig" bezeichnen würden, so dass ein "nachhaltiges Leben" nicht nur eine Frage individueller Lebensstilentscheidungen ist, sondern auch eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaften als Ganzes erfordern würde.

Es gibt viele verschiedene Definitionen von "Nachhaltigkeit", die verwendet werden. Vor einiger Zeit hat RIFS (damals noch als IASS) einen internen Prozess durchlaufen, um seine eigene Perspektive der Nachhaltigkeit zu entwickeln und anzunehmen. Die daraus resultierende Definition stützt sich auf viele andere, insbesondere auf die bekannte Brundtland-Definition, konzentriert sich aber auf die fürs RIFS wichtigsten Aspekte:

Im Verständnis des IASS umfasst Nachhaltigkeit ein Leitkonzept, um humane Lebensbedingungen für alle Menschen weltweit heute und in Zukunft sicherzustellen und zu fördern sowie dazu beizutragen, dass die dafür notwendigen natürlichen Lebensgrundlagen wiederhergestellt und erhalten werden.

Damit ist zwar das erste Problem nicht "gelöst" - denn Sie können durchaus eine andere Definition wählen, wenn Sie darüber nachdenken, wie Sie nachhaltig leben wollen - aber es schafft zumindest Klarheit darüber, was ich meine, wenn ich in diesem Artikel den Begriff "Nachhaltigkeit" verwende.

Der zweite Punkt ist wesentlich schwieriger. Selbst unsere besten Bemühungen, "nachhaltig zu leben", werden unsere Gesellschaften nicht im Alleingang so verändern, dass sie "nachhaltig" im Sinne der von uns bevorzugten Definitionen von Nachhaltigkeit sind. Selbst große Gruppen von auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Aktivistinnen und Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, politischen Entscheidungstragenden und anderen hatten in den vergangenen Jahrzehnten nur begrenzten Erfolg, wenn es darum ging, Gesellschaften zu mehr Nachhaltigkeit zu verhelfen.

Wenn also unsere Gesellschaften noch keine Rahmenbedingungen bieten, unter denen wir wirklich "nachhaltig" leben können, welche Möglichkeiten haben wir dann? Eine Antwort für den Einzelnen wäre sicherlich, unsere moderne Gesellschaft zu verlassen und ein sehr einfaches, auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Leben in der Wildnis zu führen (wie Henry David Thoreau in Walden, Chris McCandless in Into the Wild, Miriam und Peter Lancewood in Woman in the Wilderness und Wild at Heart und zahlreiche andere Beispiele). Natürlich würde dies für die meisten von uns urbanisierten Stadtbewohnenden (die inzwischen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen) nicht so ganz gut funktionieren. Und selbst wenn es so wäre, wenn Milliarden von Menschen alle versuchen würden, in der Wildnis zu leben, wie in diesen Geschichten beschrieben, wäre das wahrscheinlich auch nicht sehr lange als „nachhaltig“ zu bezeichnen.

Eine andere Möglichkeit wäre, die Frage unverblümt zu beantworten mit: "Ihr könnt nicht nachhaltig leben, also gebt es einfach auf!"  Aber das ist auch nicht sehr befriedigend. Insbesondere wird damit alles schwarz auf weiß dargestellt - entweder jemand lebt nachhaltig oder nicht - obwohl es sicherlich unterschiedliche Grade von Nachhaltigkeit gibt.

Daher habe ich im Laufe der Jahre begonnen, die ursprüngliche Frage etwas anders zu stellen:

"Wie kann ich so leben, dass die Nachhaltigkeit dadurch gefördert wird?"

Wenn wir die Frage auf diese Weise neu formulieren, schlagen wir eine Brücke zwischen Individuen und Gesellschaften und erinnern uns daran, dass individuelle Handlungen allein nicht ausreichen, um den Wandel zu nachhaltigen Gesellschaften zu vollziehen. Stattdessen müssen wir auch die harte Arbeit leisten, um übergreifende systemische Veränderungen in unseren Gesellschaften zu unterstützen, und zwar auf die vielen verschiedenen Arten, die wir dazu beitragen können. Ich weise in meinen Vorträgen und Reden oft darauf hin und beziehe mich dabei auf Mahatma Gandhis Ermutigung, "die Veränderung zu sein, die wir in der Welt sehen wollen". Im Zusammenhang mit hochkomplexen, miteinander verknüpften Nachhaltigkeitsthemen schlage ich vor, dass wir auch dies umformulieren sollten: "Seien Sie die Agenten des Wandels, den wir in der Welt sehen wollen". Agent*innen des Wandels können auf vielerlei Art und Weise tätig werden, beispielsweise indem sie durch ihr Handeln inspirieren, Wissen und Erkenntnisse mit anderen teilen, wählen gehen und sich politisch engagieren sowie nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen aufbauen oder in sie investieren.

Während die Akteure des Wandels nicht in der Lage sind, individuell nachhaltige Gesellschaften zu schaffen oder gar als "persönliche Nachhaltigkeitsinseln" in den turbulenten Gewässern der uns umgebenden Gesellschaften zu leben, gibt es weltweit viele kleine Gemeinschaften, die hart daran arbeiten, größere "Nachhaltigkeitsinseln" in Form von Ökodörfern zu schaffen. Diese haben viele verschiedene Formen angenommen und waren oder sind unterschiedlich erfolgreich. Ökodörfer bieten sehr wertvolle Beispiele dafür, wie weit Gruppen von Menschen gehen können und wollen, um solche "Nachhaltigkeitsinseln" zu schaffen. Das ist ein Thema für sich, das in verschiedenen Analysen ausführlich behandelt wurde, unter anderem in einem Buch, das einer unserer ehemaligen IASS-Fellows geschrieben hat und in dem Ökodörfer in aller Welt untersucht werden. In diesem Artikel werde ich mich darauf konzentrieren, die oben gestellte Frage im Kontext von Menschen wie mir zu behandeln, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, während sie in größeren, nicht nachhaltigen modernen Gesellschaften leben.

Mein Denken über dieses Thema hat sich in drei Schlüsselebenen entwickelt: Ziele, Prinzipien und Praktiken. In diesem Fall ist das Ziel, das durch die obige Frage impliziert wird, ganz einfach: so zu leben, dass die Nachhaltigkeit gefördert wird. Die nächste Ebene, die Prinzipien, sind Ideale, die jemand bei seinen Entscheidungen berücksichtigen kann, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Ich werde mich im weiteren Verlauf dieses Artikels auf die Ebene der Prinzipien konzentrieren. Diese Prinzipien können durch konkrete Praktiken unterstützt werden, die darauf abzielen, die Prinzipien in das tägliche Leben zu integrieren. Diese sind sehr viel detaillierter und führen zu sehr viel umfangreicheren Diskussionen, die ich künftigen Artikeln überlassen werde.

In den vergangenen Jahren haben sich meine Überlegungen zu einer Reihe von Schlüsselprinzipien herauskristallisiert, die meiner Meinung nach das meiste abdecken, was berücksichtigt werden muss, um auf eine Art und Weise zu leben, die Nachhaltigkeit (wie sie oben definiert ist) unterstützt:

Meine derzeitigen Überlegungen zu diesen Prinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Darauf zu achten, dass das Ideale (bzw. das „Perfekte“) nicht der Feind des Guten ist.
  2. Mich darum zu bemühen, meine Nutzung oder Anhäufung von materiellen, energetischen und wirtschaftlichen Ressourcen auf das zu beschränken, was speziell benötigt wird, um die übrigen Prinzipien zu befolgen, und darauf zu achten, wie, wo und von wem die Dinge, die ich konsumiere oder besitze, produziert wurden.
  3. Achtsam zu sein, gegenüber den menschlichen Ressourcen (Fähigkeiten, Zeit und Energie), die für die von mir übernommene Verantwortung erforderlich sind, für das, was ich zu tun plane oder zu tun hoffe, und für das, was ich von anderen verlange.
  4. Mich sehr gut um mein Körper-Geist-Seele-System zu kümmern.
  5. Danach zu streben, in allem, was ich tue, Exzellenz zu erreichen, aber niemals zu konkurrieren; dies gilt insbesondere für die Vermeidung von Wettbewerb, wenn dieser darauf abzielt, meinen Zustand auf Kosten anderer zu verbessern, und stattdessen alles zu tun, was im Geiste der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Verstärkung möglich ist (und, wenn Wettbewerb ein unvermeidlicher Aspekt von Spielen und anderen Formen sozialer Interaktion ist, dann im Geiste des Spiels und der gegenseitigen Verstärkung zu Spitzenleistungen zu konkurrieren).
  6. Danach zu streben, nichts zu tun, was anderen Menschen wissentlich Schaden oder Unannehmlichkeiten zufügt, und den Schaden und die Unannehmlichkeiten, die ich allen anderen empfindsamen Wesen zufüge, zu minimieren.
  7. Danach zu streben, als bewusste und konstante Manifestation eines erhabenen menschlichen Daseins zu existieren, mit Eigenschaften, die ich mit Visionen einer nachhaltigen Welt in der Zukunft verbinde, einschließlich liebevoller Güte, Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, moralischer Courage, Harmonie, Frieden und Freude.  

Einige davon mögen Ihnen ziemlich offensichtlich erscheinen, fast schon übermäßig vereinfachend (was sie aber nicht weniger gültig macht), während andere für Sie vielleicht etwas überraschend oder sogar kontraintuitiv sind. Und es kann sein, dass Sie mit einigen oder sogar vielen Aspekten überhaupt nicht einverstanden sind, was Sie durchaus sein dürfen. Dies sind die Prinzipien, die ich für mich an diesem Punkt in meinem Leben herausgearbeitet habe, basierend auf über einem Jahrzehnt häufiger und oft intensiver Diskussionen zu diesem Thema. Welche Prinzipien für Sie am besten passen, hängt von Ihrer eigenen Lebenssituation ab und von der Definition von Nachhaltigkeit, deren Wahl ihnen überlassen ist.

Diese Prinzipien wirklich zu befolgen, ist extrem harte Arbeit - und ich gebe zu, dass ich dabei immer wieder versage! Dies gilt umso mehr, als die Strukturen in unserer Gesellschaft noch nicht so beschaffen sind, dass sie ein Leben nach solchen Prinzipien unterstützen. Das ist der Grund für das erste Prinzip - und dafür, es an die erste Stelle zu setzen. Es mag oft frustrierend oder entmutigend sein, wie schwierig es ist, solchen Prinzipien zu folgen. Dennoch sind diese Prinzipien für mich das, was ständig beachtet werden muss, um auf eine Art und Weise zu leben, die die Nachhaltigkeit unterstützt, und selbst wenn sie nicht perfekt befolgt werden können, lohnt es sich, immer wieder zu versuchen, sie so genau wie möglich zu befolgen, wobei einem die Einschränkungen bewusst sein sollten, die sich aus der aktuellen Lebenssituation ergeben.  Aber es gibt auch eine logische Konsequenz: Lassen Sie nicht zu, dass das "Gut genug" der Feind des Hervorragenden ist, und in der Tat ermutigt das fünfte Prinzip dazu, in all Ihren Aktivitäten nach Spitzenleistungen zu streben.

Diese Prinzipien können weitgehend durch eine Vielzahl konkreter Praktiken unterstützt werden,  etwa durch das Sammeln und sorgfältige Abwägen von Informationen (soweit verfügbar) über die Auswirkungen von Konsumgütern und Energieressourcen auf den Einzelnen und die Umwelt, durch eine sorgfältige Zeit- und Aktivitätsplanung, Ernährungsgewohnheiten und Bewegungsroutinen sowie durch Meditation und andere spirituelle Praktiken. Wie Sie sich vorstellen können, ist es möglich, diese Themen sehr ausführlich zu behandeln, und es wurden bereits Bücher darüber geschrieben - wenn auch meist aus einer anderen Perspektive als der hier eingenommenen. Ich hoffe, diesen Blogbeitrag mit einem umfangreicheren Artikel oder vielleicht einer Reihe von Artikeln fortzusetzen, in denen ich detaillierter auf das Verständnis und die Perspektiven eingehe, die ich im Laufe meiner Jahre als wissenschaftlicher Leiter unseres Instituts entwickelt habe und die ich als wissenschaftlicher Leiter des RIFS sicherlich noch verfeinern werde.

Für den Moment sage ich "stay tuned" (D: Bleibt gespannt oder bereit). In der Zwischenzeit können Sie sorgfältig abwägen, ob diese Prinzipien gut zu Ihren eigenen Perspektiven passen und Ihnen vielleicht helfen, Ihr Denken über ein Leben zur Förderung der Nachhaltigkeit zu strukturieren. Oder ob Sie auf eine andere Reihe von Prinzipien kommen oder die Frage sogar auf eine ganz andere Weise angehen würden. In jedem Fall hoffe ich, dass diese konsolidierten Überlegungen in dieser besonderen Zeit des Übergangs vom IASS zum RIFS nützliche Impulse für diejenigen geliefert haben, die selbst über diese Frage grübeln, und ich freue mich darauf, die Diskussionen zu diesem Thema fortzusetzen und die Ideen in den kommenden Jahren weiterzuentwickeln.

Epilog und Danksagung

Anmerkung zum Nachwort:

Ein Teil der harten Arbeit, die nötig ist, um übergreifende, systemische Veränderungen für nachhaltigere Gesellschaften zu unterstützen, enthält akademische Forschung (wie auch andere Formen der Wissensgenerierung). Die Frage, um die es in diesem Artikel geht, wie ich sie oben formuliert habe, kommt einer Kernfrage, die uns beim RIFS umtreibt, recht nahe: "Wie können wir Forschung so betreiben, dass sie Nachhaltigkeit unterstützt?" Wer mehr darüber lesen möchte, dem sei ein Perspektivpapier ans Herz gelegt, das wir 2022 veröffentlicht haben und das sich mit einem Schlüsselaspekt dieser Frage befasst, nämlich mit der laufenden Entwicklung des Bereichs der "transdisziplinären Forschung". Das Papier ist frei zugänglich und so geschrieben, dass es für eine allgemein gebildete Leserschaft verständlich ist.

Und schließlich:

Ich möchte mit einem Dank an die vielen Menschen schließen, mit denen ich im Laufe der Jahre über die vielen Aspekte dieses Themas diskutiert habe! Sie sind viel zu zahlreich und zu verstreut, um sie hier auch nur ansatzweise zu nennen. Einige von Ihnen werden sich vielleicht in den verschiedenen Beiträgen und Überlegungen wiedererkennen, für die ich mich zumeist persönlich bedanken konnte, aber ich möchte hier auch einen allgemeinen Dank aussprechen!

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