Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Es ist höchste Zeit, über künftige Wasserstoffgeografien in Europa zu diskutieren

07.11.2022

Rainer Quitzow

Prof. Dr. Rainer Quitzow

rainer [dot] quitzow [at] rifs-potsdam [dot] de

Der Übergang zu erneuerbaren Energien in Europa hat sich seit der Jahrtausendwende dynamisch entwickelt. Der Anteil der erneuerbaren Energien hat sich in der Europäischen Union von 2004 bis 2022 mehr als verdoppelt. Dennoch machen erneuerbare Energien nur 22 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs und 37 Prozent der Stromerzeugung in der EU aus. Mit anderen Worten: Europa hat noch einen weiten Weg vor sich, sogar bei der relativ einfachen Aufgabe der Umstellung seiner Stromerzeugung auf erneuerbare Energien.

Europas Ziel, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, wie es im europäischen Klimagesetz verankert ist, hat die Aufmerksamkeit auf eine anspruchsvollere Aufgabe gelenkt: die Vermeidung von Treibhausgasemissionen aus so genannten schwer zu vermeidenden Sektoren wie der energieintensiven Industrie und dem Ferntransport. Diesen Sektoren ist gemeinsam, dass die direkte Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energien kein vergleichsweise einfacher Weg zur Eliminierung von Treibhausgasen ist. Stattdessen bietet klimaneutraler Wasserstoff - als Ausgangsstoff für die Produktion von Grundchemikalien und synthetischen Kraftstoffen oder als Reduktionsmittel in der kohlenstoffarmen Stahlerzeugung, um nur einige Anwendungen zu nennen - einen vielversprechenden Weg für viele dieser schwer zu dekarbonisierenden Sektoren.

Dieser Umstand hat die wichtige Frage aufgeworfen, woher dieser Wasserstoff in Zukunft kommen wird. Die EU-Wasserstoffstrategie und der REPower-Plan sehen den raschen Ausbau von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien vor. Dies ist der einzige klimaneutrale Weg zur Erzeugung von Wasserstoff. Bis zum Jahr 2030 sollen in der EU 10 Millionen Tonnen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien erzeugt und dieselbe Menge aus Partnerländern importiert werden. Diese ehrgeizigen Ziele bedeuten eine zusätzliche Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien von etwa 500 Terawattstunden sowohl in der EU als auch in den Partnerländern. Dies entspricht auch in etwa der Menge, die benötigt wird, um die bereits bestehenden EU-Ziele für erneuerbare Energien bis 2030 zu erreichen. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die EU ihre Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bis 2030 von 1000 TWh auf etwa 2000 TWh pro Jahr verdoppeln müsste. (Eine weitere Erhöhung des EU-Ziels für erneuerbare Energien wurde kürzlich vom EU-Parlament vorgeschlagen).

Das Erreichen dieser Ziele wird erhebliche Auswirkungen auf die künftige Energiegeografie in Europa haben. Während Analysten auf die wirtschaftlichen und technischen Herausforderungen der Ziele hingewiesen haben, wird die räumliche Dimension dieser Entwicklungen in der EU-Strategie nicht ausdrücklich angesprochen und kommt in den politischen Diskussionen nur selten vor. Die Hauptverantwortung für das Erreichen der Ziele liegt bei den Mitgliedsstaaten. Die ehrgeizigsten Strategien kommen jedoch nicht notwendigerweise von den Regionen mit dem größten Potenzial zur Erzeugung eines Überschusses an erneuerbarer Energie.

Deutschland hat zum Beispiel eine der ehrgeizigsten Wasserstoffstrategien, die bis 2030 eine Elektrolyseurkapazität von 5 GW vorsieht. Unter den EU-Mitgliedstaaten verfügt es jedoch über eines der niedrigsten Potenziale für erneuerbare Energien im Verhältnis zum derzeitigen Stromverbrauch (siehe Abbildung 1). Spanien gehört zu den Mitgliedstaaten mit einem der größten potenziellen Überschüsse an erneuerbaren Energien und verfügt über ein geschätztes Onshore-Windkraftpotenzial, das mehr als sechsmal so groß ist wie das Deutschlands. Es strebt jedoch nur 4 GW Elektrolyseur-Kapazität bis 2030 an. Griechenland, dessen Onshore-Windkraftpotenzial das deutsche um mehr als 70 Prozent übertrifft, strebt bis 2030 eine Elektrolyseur-Kapazität von 750 MW an. Rumänien hat ein um 50 Prozent höheres Potenzial für die Windenergieerzeugung als Deutschland, muss aber noch eine nationale Wasserstoffstrategie einführen (zu den Windenergiepotenzialen siehe den Bericht von JRC (2018) über Windenergiepotenziale für die EU und ihre Nachbarländer, insbesondere Seite 38). Auch das Solarpotenzial im Verhältnis zum Stromverbrauch übersteigt das Potenzial in Deutschland bei weitem (siehe Abbildung 2).

Abbildung 1: Potenzial für die Windenergieerzeugung in den EU-Mitgliedstaaten im Verhältnis zur Stromerzeugung 2016 (Quelle: IASS Potsdam, basierend auf JRC, 2018)

Potential for wind power

Abbildung 2: Solarenergiepotenzial in der Europäischen Union, nach Regionen (Quelle: JRC Energy and Industry Geography Lab, ENSPRESO dataset)

Solar energy

Dies wird teilweise durch ein erhebliches Offshore-Potenzial in der Nordsee ausgeglichen, das nicht nur für die Erfüllung der deutschen Wasserstoffziele, sondern auch für die Ziele Dänemarks, Belgiens und der Niederlande eine wichtige Rolle spielen wird. Diese vier Länder haben gemeinsam ihre Absicht erklärt, bis 2030 eine Elektrolyseurkapazität von 20 GW zu errichten, die durch eine Offshore-Windkapazität von 65 GW unterstützt wird. Abgesehen von diesen gezielten Bemühungen, das Potenzial der Nordsee zu nutzen, hängen die Wasserstoffambitionen in Europa nicht in erster Linie vom künftigen Potenzial erneuerbarer Energien ab, sondern von den finanziellen Möglichkeiten der Regierungen, in klimafreundliche Innovationen und industrielle Entwicklung zu investieren. Abgesehen von den an erneuerbaren Energien reichen nordischen Ländern haben Deutschland und Italien die ehrgeizigsten Ziele für Elektrolyseur-Kapazitäten auf der Basis erneuerbarer Energien, obwohl ihr Potenzial an erneuerbaren Energien im Verhältnis zum Strombedarf vergleichsweise gering ist. Auch Frankreich hat ehrgeizige Wasserstoffziele formuliert. Aufgrund des hohen Anteils der Kernenergie am Energiemix stellt Frankreich jedoch einen Sonderfall dar. Es strebt 6,5 GW strombasierten Wasserstoff an, hergestellt mit erneuerbaren Energien und Kernenergie. Das ist die größte Menge unter den Mitgliedstaaten.

Die deutsche Strategie legt auch großen Wert auf die Entwicklung von Lieferketten für die Einfuhr von Wasserstoff zur Deckung des künftigen Wasserstoffbedarfs. Während diese Bestrebungen die von Deutschland erwartete Lücke bei der Deckung seines Wasserstoffbedarfs schließen sollen, ist der innereuropäische Wasserstoffhandel keine Hauptpriorität. Er wird auch nicht ausdrücklich in der EU-Wasserstoffstrategie thematisiert. Obwohl die EU-Strategie den Bedarf an Importen aus Nicht-EU-Ländern anerkennt, schlägt sie keinen Ansatz vor, um das Potenzial an erneuerbaren Energien in den Mitgliedstaaten mit ihren Wasserstoffambitionen in Einklang zu bringen, sondern überlässt dies den Mitgliedstaaten. Weder Deutschland noch die EU setzen sich aktiv mit der Frage der zukünftigen geografischen Verteilung der Wasserstoffnachfrage auseinander. Vielmehr wird implizit davon ausgegangen, dass die derzeitigen Nachfrageschwerpunkte, vor allem in den nordeuropäischen Ländern, weitgehend bestehen bleiben und sich die Wasserstoffströme zur Deckung dieser Nachfrage entwickeln werden.

Nur Spanien hat bislang eine Vision formuliert, die von dieser Vorstellung abweicht und die Entwicklung von Wasserstoff sowohl für den Export in nordeuropäische Nachfragezentren als auch für die Entwicklung neuer, klimaneutraler industrieller Versorgungsketten in Spanien vorsieht. Das Land hofft, sein Potenzial an erneuerbaren Energien nutzen zu können, um Investitionen anzuziehen. Eine solche Entwicklung hat deutliche Parallelen in der Geschichte. Die Verfügbarkeit von Energieressourcen war entscheidend für die Entstehung der bestehenden Industriestandorte in Europa, die sich in der Nähe von Kohleabbauzentren oder entlang von Wasserwegen befanden, die den Transport von Kohle ermöglichten. Während die derzeitige Infrastruktur und das Know-how in den bestehenden Industrieregionen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen werden, dürften erneuerbare Ressourcen als wichtiger zusätzlicher Faktor hinzukommen.

Bislang ist die europäische Politik weitgehend blind für die Geografie der erneuerbaren Energien in Europa und überlässt Investitionsentscheidungen vermutlich den Marktkräften. Im Gegensatz zu früheren Energieübergängen werden die aktuellen Entwicklungen jedoch nicht nur von den Regierungen begleitet. Vielmehr ist die Politik der zentrale Motor dieser Veränderungen. Vor diesem Hintergrund könnte eine Beschäftigung mit diesen geografischen Dimensionen und der Frage, wie sie die Zukunft von Energie und Industrie in Europa beeinflussen könnten, wichtige neue Erkenntnisse für die europäischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger liefern. Die Darstellung verschiedener Szenarien für die künftige Energiegeografie Europas und ihre Auswirkungen auf Aspekte wie Energiesicherheit, industrielle Wettbewerbsfähigkeit sowie die ökologische und soziale Nachhaltigkeit der Wasserstoffentwicklung könnten wichtige Erkenntnisse für eine bessere internationale Positionierung Europas und seines Green Deal liefern. Wie die derzeitige Energiekrise in Europa gezeigt hat, kommt es auf die Energiegeografien an - und darauf, wie sie durch Infrastrukturentscheidungen gestaltet werden.

Dieser Blogbeitrag wurde erstmals am 28. Oktober 2022 auf der Seite FUTURES4EUROPE veröffentlicht.

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